Neue Familienformen in Deutschland

Wenn Kinder zwei Mütter haben oder drei Stiefgeschwister, wenn die WG-Mitbewohnerin zur Ersatzoma wird oder Eltern keinen Trauschein wollen — dann sind wir angekommen in Deutschlands Wirklichkeit. Das alles ist heute Familie. Doch die traditionelle Ehe wird immer noch bevorzugt, vor allem finanziell.

Verliebt, verlobt, verheiratet — und dann kommen die Kinder. Das ist das Bild, das viele Deutsche vor Augen haben, wenn sie an Familie denken. Michaela Kreyenfeld, Wissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für demographische Forschung, braucht nur eine einfache Zahl, um diese Vorstellung zu zerstören: 61 Prozent. 61 Prozent der ostdeutschen Kinder, die im vergangenen Jahr geboren wurden, hatten unverheiratete Eltern. Es ist also die Mehrheit der Kinder im Osten, die nicht mehr in der klassischen Familie zur Welt kommt.

Und das ist gar nicht so neu. Schon seit den späten neunziger Jahren wird der größte Teil der ostdeutschen Kinder außerhalb von Ehen geboren. Westdeutschland ist traditioneller, doch auch dort ist die Ehe auf dem Rückzug. Heute hat schon jedes vierte neugeborene Kind im Westen eine unverheiratete Mutter.

Von wegen verliebt, verlobt, verheiratet. Der neue Dreiklang heißt eher kennenlernen, Kisten schleppen, Kinder kriegen. Dazwischen bleibt wenig Zeit für den Trauschein. Und wenig Lust. Zum Beispiel bei Johannes Krätschell und Gundula Trebs. Das Berliner Paar hat zwar eine kleine Tochter, denkt aber gar nicht daran, bald vor den Traualtar zu treten. "Der Trauschein sagt nichts darüber aus, ob es auf Dauer wirklich gutgeht", sagen sie.

In Deutschland tut sich etwas

Das ist nur ein Beispiel dafür, dass sich in Deutschland etwas tut. Das Zusammenleben der Generationen verändert sich grundsätzlich. Das Standardmodell hart arbeitender Vater, treusorgende Gattin und eine Schar von Kindern gibt es zwar immer noch. Doch heute ist viel mehr möglich und üblich. Die Familie hat sich in den vergangenen Jahrzehnten so stark gewandelt wie kaum eine andere gesellschaftliche Institution.

Es sind vor allem die besseren wirtschaftlichen Möglichkeiten für Frauen, die den Wandel herbeiführen. Nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen westlichen Welt. Zum einen nimmt der dringende Wunsch zu heiraten ab. "Weil Frauen immer häufiger selbst erwerbstätig sind, ist die Ehe nicht mehr so relevant wie einst", sagt Forscherin Kreyenfeld. "Ihre Schutzfunktion ist für viele nicht mehr notwendig." Zum anderen sind es auch die Ehen selbst, die sich verändern — sie halten immer kürzer. Da der Mensch aber trotz allem gerne in der Gruppe lebt, probiert er andere Formen des Zusammenlebens: Mehrgenerationenhäuser, Patchwork-Familien. Das alles ist längst normal.

Dazu kommt, dass gleichgeschlechtliche Partnerschaften zunehmend akzeptiert sind. Sie werden heute viel offener gelebt als noch vor wenigen Jahren — durchaus auch einmal mit Kind.

Das macht das Leben vielfältiger, aber auch komplizierter. Etwa bei Karin Jehle. Die Sonderpädagogin aus Berlin hat fünf Kinder, zwei mit ihrem jetzigen Mann, mit dem sie auch zusammenlebt, drei aus früheren Beziehungen. Auch ihr Mann hat noch eine Tochter mit einer anderen Frau. Wenn es in dieser Familie darum geht, wer wem wie viel Unterhalt zahlt und welches Kind wann mit welchem Elternteil Zeit verbringen darf, kann leicht Verwirrung aufkommen.

Steuerrecht ist auf die traditionelle Familie ausgerichtet

Kein Wunder. Schließlich ist das deutsche Familien- und Steuerrecht immer noch auf die traditionelle Familie ausgerichtet: ein Hauptverdiener, eine Hausfrau, verheiratet, Kinder. Auf die neuen Familien reagiert die Politik eher behäbig. Zwar wird ständig irgendetwas reformiert. „Im Familienrecht gab es in den vergangenen Jahren mehr Reformen als in allen anderen Bereichen des bürgerlichen Rechts“, sagt die Bonner Familienrechtlerin Nina Dethloff. Doch vieles kommt reichlich spät.

So wurden zum Beispiel erst 1998 eheliche und nichteheliche Kinder komplett gleichgestellt. Vorher galt: Uneheliche Kinder waren Kinder zweiter Klasse. Sie erhielten weniger Unterhalt und auch nur ein geringeres Erbe.

Schlimm war die alte Regelung auch für den Vater. „Er hatte quasi keine Rechte, wenn er die Mutter nicht geheiratet hat“, sagt Max-Planck-Forscherin Kreyenfeld. Zum Beispiel konnte er das Sorgerecht für das uneheliche Kind nicht mit der Mutter teilen. „Und das in einer Gesellschaft, in der nichteheliche Kinder längst zur Normalität geworden waren.“ Doch auch nach dieser Reform waren eheliche Kinder noch lange indirekt besser gestellt als die aus der nichtehelichen Partnerschaft. Denn ihre Mütter hatten im Falle der Trennung vom Vater das Recht, bis zum zehnten Lebensjahr des Kindes nicht zu arbeiten und stattdessen Unterhalt vom Ex-Mann zu kassieren. Mütter aus unehelichen Beziehungen hingegen sollten schon nach drei Jahren wieder arbeiten und konnten sich weniger um ihre Kinder kümmern. Es musste erst das Bundesverfassungsgericht kommen, um das zu ändern. Seit 2008 gilt: Ex-Ehefrauen müssen genauso früh wieder arbeiten wie Ex-Freundinnen.

Der besondere Schutz von Ehe und Familie

Auch Patchwork-Familien und schwule und lesbische Paare sind rechtlich noch deutlich schlechter gestellt als traditionelle Familien. Das führt dazu, dass sie finanziell oft prekärer leben. So stehen den gleichgeschlechtlichen eingetragenen Lebenspartnerschaften zwar schon viele Rechte zu, die sie der Ehe annähern. Doch der Vorteil des steuerlichen Ehegattensplittings bleibt ihnen verwehrt.

Traditionsbewusste Anwälte und Politiker begründen das mit dem besonderen Schutz der Ehe, der im Grundgesetz festgehalten ist. Allerdings ist dort die Familie genauso geschützt. Früher war das kein Problem, denn Ehe und Familie waren beinahe identisch. Heute entwickeln sie sich auseinander — und die Politik muss abwägen, was sie wichtiger findet.

In der Patchwork-Familie funktioniert vieles nur inoffiziell

Besonders schlecht geregelt ist die Lage einer mittlerweile durchaus üblichen Form des Zusammenlebens: der Patchwork-Familie. Hier funktioniert vieles nur inoffiziell. So leben hier zwar häufig Kinder mit einem leiblichen Elternteil und dessen neuem Partner zusammen. Aber: „Die rechtliche Absicherung der Beziehung ist völlig unzureichend“, sagt Dethloff. So kann der neue Mann einer leiblichen Mutter deren Kind zwar adoptieren. Jedoch erlischt dadurch automatisch die Verwandtschaft des Kindes zum leiblichen Vater. Will also der neue Partner zum richtigen Vater werden, muss der alte verzichten. „Das entspricht nicht mehr der Lebenswirklichkeit, in der Kinder oft drei Elternteile haben“, sagt Dethloff.

Dies neu zu regeln ist kompliziert. Bisher gibt es kaum ein Land, in dem ein Kind etwa drei Eltern haben kann. Noch schwieriger ist es für ungewöhnlichere Formen des Zusammenlebens wie etwa Mehrgenerationengemeinschaften oder Senioren-WGs. Hier wohnen häufig Menschen in einer Wohnung oder einem Haus, die nicht verwandt oder verheiratet sind, aber trotzdem ähnlich füreinander eintreten. Ihre Rechte sind bisher gar nicht geregelt.

Eine Initiative der Robert Bosch Stiftung will ihnen nun zu mehr Schutz verhelfen. Im Bericht „Starke Familie“ fordert die Kommission Familie der Stiftung, die eingetragene Partnerschaft, die es für gleichgeschlechtliche Paare gibt, auszuweiten und „als Rechtsform für Menschen zuzulassen, die füreinander Verantwortung übernehmen und tragfähige Bindungen eingehen werden“. Eine Art Ehe light für jede Art des Zusammenlebens. Man ahnt es: Bis die Politiker solches beschließen, können noch einige Jahre ins Land gehen.

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